Bescheidenheit
Am Nationalfeiertag ist mir das Gedicht «Dynamit» des Berner Troubadours Mani Matter in den Sinn gekommen. Am Ende schreibt er ganz lakonisch über das Bundeshaus: «s’steit numen uf Zyt». Wenn ich vor dem Bundeshaus oder vor einem anderen bedeutenden Gebäude stehe, wird mir nicht immer bewusst: Es steht auf Zeit. Was heute wichtig ist, kann morgen schon bedeutungslos sein.
Das ist mir in Avenches VD in diesem Frühling deutlich geworden. Im 2. Jahrhundert nach Christus war es die wichtigste römische Stadt auf dem Gebiet der heutigen Schweiz und hatte damals über 20’000 Einwohner. Die Stadt beherbergte ein Amphitheater mit 16’000 Plätzen (Bild) und ein Theater mit 11’000 Plätzen. Mit dem Niedergang des römischen Reiches verlor Avenches an Bedeutung. Zeitweise war es ein Weiler mit 120 Personen. Gegenwärtig hat Avenches rund 4000 Einwohner. Die heute besiedelte Fläche umfasst vielleicht ein Fünftel des ursprünglich römischen Stadtgebietes.
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte lehrt mich immer wieder Bescheidenheit. Während ehemals wichtige mittelalterliche Städte an Bedeutung verloren haben, sind damalige Weiler zu heutigen Top-Orten avanciert. Dann ist mir an diesem 1. August auch noch das Abendlied «Bleib bei mir» von Henry Francis Lyte eingefallen, das der Bescheidenheit auch eine Richtung gibt: «Umringt von Fall und Wandel leben wir./ Unwandelbar bist du: Herr, bleib bei mir!»
Pfr. Andreas Gäumann