Eine Nach-Weihnachtsgeschichte
Ein kleiner Junge fand in einer alten Schachtel unter allerlei Kram einen silbernen Stern. „Mama, was ist das?“ „Das ist ein Weihnachtsstern.“ „Ein was?“ „Ein Weihnachtsstern. Etwas von früher. Von einem Fest.“ „Was war das für ein Fest, Mama?“ „Ein mühsames“, sagte die Mutter mit angestrengtem Gesicht: „Die ganze Familie sass im Wohnzimmer um einen Baum herum und sang Lieder. Meistens kamen die Lieder zwar aus dem Fernseher.“ „Wieso um einen Baum? Im Zimmer wachsen doch keine Bäume?“ „Es war eine Tanne, die man von draussen reinholte. Die hat man dann mit Kugeln und Kerzen geschmückt. Und an der Spitze der Tanne befestigte man eben diesen Stern.“ „Hat dieser Stern etwas bedeutet, Mama?“ „Er sollte an den Stern erinnern, dem die Hirten und andere Leute nachgegangen sind, bis sie den kleinen Jesus in der Krippe fanden.“ „Wer ist das, Mama, der kleine Jesus?“ „Das erzähle ich dir ein andermal“, meinte die Mutter. So genau wusste sie es auch nicht mehr.
„Das muss ein schönes Fest gewesen sein“, sagte der Junge nach einer Weile verträumt. Er dachte an den geschmückten Baum mit den brennenden Kerzen. „Das war bestimmt schön, Mama.“ „Nein. Es war anstrengend. Alle waren froh, wenn es vorüber war.“ Und sie öffnete den tiefen Müllschlucker des Hochhauses. Ihrem Sohn gab sie den Stern in die Hand: „Schau mal, wie alt er schon ist. Du darfst ihn in den Müllschlucker werfen und aufpassen, wie lange du ihn noch siehst.“ So warf der Junge den Stern in den Müllabwurf. Gespannt schaute er ihm nach. Die Mutter ging zur Tür; es hatte geklingelt. Als sie wiederkam, stand der Junge immer noch über dem Müllschlucker: „Mama, ich sehe ihn immer noch, er glitzert, er ist immer noch da.“ (nach Marie Louise Kaschnitz)
Take good care!
Pfr. Harry Ratheiser